Sechs Koffer: Roman (German Edition) by Maxim Biller

Sechs Koffer: Roman (German Edition) by Maxim Biller

Autor:Maxim Biller [Biller, Maxim]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783462319095
Herausgeber: Kiepenheuer & Witsch eBook
veröffentlicht: 2018-08-07T22:00:00+00:00


Immer, wenn ich heute nach Zürich komme, gehe ich mindestens einmal in die Kronenhalle und bestelle mir das Gleiche, was ich damals an meinem fünfzehnten Geburtstag mit Dima gegessen hatte – Rinderbouillon, Zürcher Geschnetzeltes, Tomatensalat mit dünn geschnittenen, fast durchsichtigen Zwiebeln, Mousse au chocolat.

Dima und ich hatten an diesem Abend – das weiß ich noch ziemlich genau – gegenüber von dem kleinen, nicht besonders guten Blumenbild von Marc Chagall gesessen, ganz am Rand eines der langen Tische in der Mitte des großen Saals, und Dima redete, wenn er sich nicht vor mir für seine Arbeit als Waffeningenieur rechtfertigte, die meiste Zeit nur über die Kronenhalle. Er erzählte mir, wie viele berühmte Schriftsteller und Künstler hier schon gewesen waren. Er zeigte auf die Bilder, die überall hingen, und nannte aufgeregt flüsternd die Namen der Maler, von denen sie stammten: »Picasso!«, »Miró!«, »Giacometti!« Er sagte: »Fass mal die Serviette an! Merkst du was? Merkst du, wie weich und fest der Stoff ist?« Er zeigte mit dem ausgestreckten Zeigefinger einmal quer durch den Raum und flüsterte: »Alles Art déco, verstehst du, wie bei Rothschild!« Er redete mit den Kellnern in ihren steifen, weißen Kitteln so ängstlich und unterwürfig, als belästige er sie mit seinen Wünschen und als seien in Wahrheit sie die Gäste und nicht wir. Und als schließlich die Rechnung kam, zeigte er sie mir stolz und sagte: »130 Franken, siehst du? Dafür kann man fast eine Waschmaschine kaufen! Kein Problem, das ist mein Geburtstagsgeschenk an dich. Damit du nie vergisst, wie gut wir es inzwischen haben. Und dass sich diese ganze verdammte Emigration und die jahrelange Quälerei für uns Erwachsene, aber auch für euch Kinder, wirklich gelohnt hat!« Dann beugte er sich zu mir vor, er kniff mich wie ein Mafiaboss in die Wange und tätschelte sie, und plötzlich beugte er sich noch weiter vor, bis seine eng zusammenstehenden Augen dicht vor meinen Augen waren, und gab mir links und rechts einen Kuss. »Herzlichen Glückwunsch, Kleiner! Du bist jetzt schon fünf Jahre lang ein stolzer, glücklicher Bewohner des freien Westens!«

Ja, immer, wenn ich heute nach Zürich komme und in der Kronenhalle sitze, erinnere ich mich an meinen fünfzehnten Geburtstag. Ich erinnere mich an Dima, an Ettie, an Miloslav – oder Jaroslav –, ich erinnere mich an die dünne Blondine von dem Brown-Boveri-Plakat in Dimas Flur und an die Schatten von Tante Natalias Brustwarzen – und ich erinnere mich auch daran, wie ich elf Jahre später, bei der Beerdigung von Dima, endlich Lev kennenlernte. »Ich habe dich neulich im Fernsehen gesehen«, hatte er zu mir zur Begrüßung gesagt – worauf ich mich sofort von ihm wegdrehte und beschloss, nie mehr ein Wort mit ihm zu reden.



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